Der Zustand der Ostsee 2023
Die Ostsee steht vor wachsenden Herausforderungen durch den Klimawandel und den Verlust der Artenvielfalt aufgrund von Überdüngung, Verschmutzung, Sauerstoff-Verlust, Landnutzung, übermäßiger Fischerei und Nutzung anderer Ressourcen. Dies geht aus einem Bericht zum Zustand der Ostsee hervor, den die Helsinki-Kommission (HELCOM) veröffentlichte. Er fasst die wichtigsten Ergebnisse einer umfassenden Untersuchung zusammen, die einen Überblick über die Situation des Ökosystems der Ostsee in den Jahren 2016 bis 2021 gibt. Dr. Jan Dierking und Dr. Marco Scotti vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel trugen als zwei der deutschen Mitglieder der HELCOM-Arbeitsgruppe zu Nahrungsnetzen zum Kapitel über den Zustand der Biodiversität in der Ostsee bei.
Überdüngung und Verschmutzung, Sauerstoff-Verlust, Überfischung, Zerstörung von Lebensräumen und Landnutzung belasten die Ostsee weiterhin zunehmend. Dies geht aus dem Bericht „State of the Baltic Sea 2023“ (Zustand der Ostsee 2023) hervor, den die Helsinki-Kommission für den Schutz der Meeresumwelt der Ostsee (Baltic Marine Environment Protection Commission, HELCOM) heute veröffentlichte. Der Bericht hält fest, dass sich die Umweltbedingungen nur wenig bis gar nicht verbessert haben. Er fußt auf einer ganzheitlichen Untersuchung, die einen umfassenden Überblick über den Zustand des Ökosystems der Ostsee in den Jahren 2016 bis 2021 gibt, dem HELCOM Holistic Assessment (HOLAS 3).
„Ein Schwerpunkt des Reports liegt auf der Artenvielfalt in der Ostsee. Viele Spezies sind Mehrfach-Stress durch den Klimawandel und andere menschliche Einflüsse ausgesetzt. Nur eine Kombination von Maßnahmen kann helfen, marine Lebensräume zu verbessern und die einzigartige Biodiversität dieser Region zu schützen, auf die viele Menschen angewiesen sind“, erklärt Dr. Jan Dierking, Meeresökologe am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. „Ein Ansatz wäre, die wissenschaftliche Forschung in der Region stärker zu koordinieren und die Vorteile von Modellsimulationen intensiver zu nutzen“, ergänzt Dr. Marco Scotti, Ökosystemmodellierer am GEOMAR. Die beiden Forscher trugen als Mitglieder der HELCOM-Expertengruppe für Nahrungsnetze zu dem neuen Bericht bei.
In ihrer Forschung setzen sich Dr. Dierking und Dr. Scotti für ein besseres Verständnis der Nahrungsnetze in der Ostsee ein. Ihre Arbeiten zur trophischen Ökologie tragen dazu bei, Schlüsselarten zu identifizieren, die eine entscheidende Rolle für die Gesundheit und das Funktionieren des Ökosystems spielen und durch direkte und indirekte Effekte Nahrungsnetze beeinflussen. Dabei nehmen sie insbesondere Veränderungen von Artengemeinschaften und Nahrungsnetzen unter sich wandelnden Klima- und Umweltbedingungen sowie den Nutzen eines ökosystembasierten Fischereimanagements in den Blick.
Zu den Informationen, die direkt in den HELCOM-Bericht einflossen, gehört eine Meta-Analyse aller veröffentlichten Studien zum Ostseeraum aus dem Feld der stabilen Isotopen-Ökologie, die ein Team von Autor:innen um Dr. Dierking kürzlich in der Fachzeitschrift Ambio veröffentlichte. Dieses Teilgebiet der Ökologie hat das Wissen über das Ernährungs- und Wanderungsverhalten von Lebewesen, Nähr- und Schadstoffflüsse, die Funktionsweise des Kohlenstoffkreislaufs sowie die Struktur und Dynamik von Nahrungsnetzen nachhaltig verbessert. Die Meta-Analyse fasst entsprechende Fortschritte in Bezug auf das Ökosystem Ostsee zusammen. Sie zeigt außerdem, dass ein stärkerer Fokus auf eine ostseeweite Zusammenarbeit und Integration von Daten, einschließlich der Schaffung einer „Ostsee-Isobank“ als öffentlich zugängliche Datenbank für stabile Isotopen-Datensätze, das Potenzial hätte, das wissenschaftliche Verständnis weiter zu verbessern und effizienteres Umweltmanagement zu unterstützen, argumentieren die Autor:innen.
In enger Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Naturschutz (BfN) konnten Expert:innen des GEOMAR außerdem zeigen, dass ein ökosystembasiertes Fischereimanagement die Bestände kommerziell relevanter Fischarten wiederherstellen und zum Schutz der bedrohten Schweinswal-Population beitragen würde. Mithilfe von Modellsimulationen testeten die Forschenden fünf Szenarien, die von einem Fischerei-Stopp bis zum ökosystembasierten Fischereimanagement reichten. Dieser Ansatz berücksichtigt die Rolle der Arten innerhalb ihres Ökosystems und passt Fangmengen entsprechend an, um die Fischbestände in einem gesunden, produktiven und widerstandsfähigen Zustand zu halten. Die Ökosystemmodelle ermöglichen die Berechnung von Indikatoren für das Nahrungsnetz, die den guten Umweltzustand und die Abweichungen davon quantifizieren, wie es die Europäische Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie fordert. Diese Indikatoren sind von strategischer Bedeutung, da sie es ermöglichen, frühzeitige Anzeichen von Stress zu erkennen, bevor es zu extremen Folgen wie Regimewechsel kommt.
Aufbauend auf derartigen Erkenntnissen fordert der Bericht „State of the Baltic Sea 2023“ ökosystemorientierte Ansätze in der Meerespolitik bei der Umsetzung des HELCOM-Ostseeaktionsplans.
„Ein erfolgreiches Umweltmanagement und der Schutz der Ostsee hängen vom wissenschaftlichen Verständnis des Zustands unserer Umwelt ab. Das GEOMAR verfügt über eine langjährige und breit gefächerte Expertise aus verschiedenen Disziplinen der Meeresforschung“, sagt GEOMAR-Direktorin Professorin Dr. Katja Matthes. „Unsere Beteiligung an der Arbeit der Helsinki-Kommission und dem Bericht zum Zustand der Ostsee sind ein gutes Beispiel dafür, wie wir zu politik-relevanten Bewertungen beitragen, um die Entwicklung nachhaltiger Lösungen für drängende gesellschaftliche Fragen zu ermöglichen.“
Die wichtigsten Ergebnisse des Berichts „State of the Baltic Sea 2023“:
- Verschlechterung der Umwelt: Trotz der Bemühungen, die Umwelt der Ostsee zu verbessern, gab es im Bewertungszeitraum (2016-2021) wenig bis keine Verbesserungen. Mehrere Indikatoren, darunter pelagische und benthische Lebensräume, Fischbestände, Wasservögel und Meeressäuger, erreichten ihre Schwellenwerte nicht, einige zeigten eine Tendenz zur Verschlechterung.
- Auswirkungen menschlicher Aktivitäten: Zu den Belastungen für das Ökosystem der Ostsee gehören Eutrophierung, Verschmutzung durch gefährliche Stoffe, Überfischung und die Zerstörung von Lebensräumen. Diese Belastungen wirken sich negativ auf das Ökosystem aus und führen zu einer Verschlechterung des Gesamtzustands der Artenvielfalt.
- Kosten der Tatenlosigkeit: Der schlechte Umweltzustand der Ostsee wirkt sich eindeutig auf ein breites Spektrum von Ökosystemleistungen aus, von denen wir abhängig sind. Er beeinträchtigt beispielsweise die Rentabilität der Fischerei und des Tourismus. Die Erreichung eines guten Umweltzustands in den nationalen Meeresgewässern bis zum Jahr 2040 hat für die Menschen im Ostseeraum einen geschätzten Wert von 5,6 Milliarden Euro pro Jahr.
- Regionale Maßnahmen: Die Bewertung zeigt, dass sich die Umsetzung regionaler Maßnahmen positiv auf die Umwelt auswirkt. Die Verringerung des Nährstoffeintrags und der gefährlichen Stoffe sowie Maßnahmen zur Erhaltung der Artenvielfalt haben in einigen Teilen der Ostsee bereits Erfolge gezeigt.
- Der Klimawandel: Der Klimawandel wirkt sich zunehmend auf die Ostseeregion aus und führt zu steigenden Wassertemperaturen, einer geringeren Eisbedeckung und einer Zunahme extremer Wetterereignisse. Dies verstärkt den Bedarf an Maßnahmen zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme und zur Abschwächung der negativen Auswirkungen des Klimawandels.
- Ökosystembasiertes Management: Die Auswertung unterstreicht die Bedeutung eines ökosystembasierten Managements und transformativer Veränderungen in verschiedenen sozioökonomischen Sektoren, die mit der Umwelt der Ostsee zusammenwirken oder sie beeinflussen.
HELCOM (2023): State of the Baltic Sea. Third HELCOM holistic assessment 2016-2021. Baltic Sea Environment Proceedings n°194, https://stateofthebalticsea.helcom.fi
Text: GEOMAR, Foto: Jan Dierking, GEOMAR