Effektive Beutejagd in der Tiefsee
Ein internationales Forscherteam hat untersucht, warum Delfine und Wale rekordverdächtige Tauchgänge in mehrere Kilometer Tiefe durchführen. Erstmals konnten sie das Jagdverhalten mit der vorhandenen Beute in den Jagdgebieten in Verbindung bringen. Die Studie von Wissenschaftler*innen aus den Niederlanden und Deutschland unter Beteiligung des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel ist jetzt in der Fachzeitschrift Science Advances erschienen.
Unsere Ozeane bestehen aus 1,3 Milliarden Kubikkilometern Meerwasser und sind durchschnittlich mehr als 3600 Meter tief. Die Tiefsee ist ein so riesiger Lebensraum, dass wir nicht genau wissen, welche Tiere darin leben und wie diese Tiere voneinander abhängen. Dank der Fortschritte bei der Beobachtung ozeanischer Top-Räuber, wie Haie und Delfine, erfahren wir mehr über ihr Nahrungsverhalten. Viele Wal- und Delfinarten jagen speziell in der Tiefsee. Die Wale suchen sich eine entlegene Nahrungsquelle in mehreren hundert Metern bis Kilometern Tiefe. Aber auch sie müssen nach jedem Tauchgang wieder an die Oberfläche zurückkehren. Die Belohnung für die Beute muss beträchtlich sein, damit sich dieser Hin- und Rückweg lohnt. „Und das ist bisher für uns eine echte Blackbox. Wir wissen zum Beispiel kaum etwas darüber, welche Tintenfischarten in welcher Wassertiefe vorkommen“, sagt Fleur Visser, Wissenschaftlerin am Institut für Biodiversität und Ökosystemdynamik der Universität Amsterdam und am NIOZ (Royal Netherlands Institute for Sea Research). Sie ist eine der beiden Hauptautorinnen einer deutsch-niederländischen Studie, die jetzt in der internationalen Fachzeitschrift Science Advances erschienen ist.
Um die Tiefsee besser zu verstehen und zu schützen, müssen wir mehr über ihre grundlegenden Lebensprozesse wissen, wie zum Beispiel die Interaktionen zwischen Top-Räubern und Beute. Top-Raubtiere sind wichtige Schlüsselarten, die die Gesundheit der Ökosysteme und die Artenvielfalt bestimmen. Ein grundlegendes Verständnis der Räuber-Beute-Dynamik in der Tiefsee wird erst möglich, wenn Daten aus der Jagdtechnik mit Daten über Beutetiere kombiniert werden.
Bei Untersuchungen rund um die Azoren leisteten die Forscher*innen Pionierarbeit bei dem erfolgreichen Versuch, Forschungsdaten sowohl von Top-Räubern als auch von Tiefsee-Beutegemeinschaften zu kombinieren. So fanden sie heraus, dass Risso-Delfine jagen in einer anderen Tiefenzone nach Tintenfischen jagen als Cuvier-Schnabelwale. Risso-Delfine, die während der Studie verfolgt wurden, fingen ihre Beute in Tiefen zwischen 12 und 623 Metern. Cuvier-Schnabelwale jagten viel tiefer, zwischen 800 und 1.700 Metern Tiefe bis hin zum Meeresboden. Die Wale, die tiefer tauchen, benötigen dafür mehr Energie. Es lohnt sich für sie nur, tiefer zu tauchen, wenn der Tauchgang auch mehr Energie (Kalorien) aus der Beute liefert.
Sensoren, die beide Walarten zeitweise bei Tauchgängen trugen, zeichneten Daten über die Tauchtiefe und die Geräusche auf, die sie beim Tauchen machen. Die Tiere jagen mit Hilfe von Schall, mit Echoortung – genau wie Fledermäuse. Schließlich ist es dunkel, wenn sie in Hunderte von Metern Tiefe oder noch tiefer tauchen. „Die Individuen machen eine bestimmte Art von Geräuschen, wenn sie versuchen, Beute zu fangen“, sagt Visser, „das ist ein Summen. So wissen wir, in welchen Tiefen sie Beute anvisieren“. Bei den Cuvier-Schnabelwalen wurden über 30 Fangversuche pro Stunde festgestellt, während die flacher tauchenden Risso-Delfine fast 50 Fangversuche pro Stunde unternahmen. Auf den ersten Blick scheinen extreme Tauchgänge also weniger erfolgreich zu sein als flachere Tauchgänge, was die Anzahl der potenziellen Beute angeht.
Die Forscher*innen vermuteten daraufhin, dass beide Walarten wahrscheinlich unterschiedliche Tintenfischarten jagen. Um diese Hypothese zu testen, wurde eine innovative Forschungsmethode angewandt, bei der Tintenfisch-DNA aus dem Meerwasser extrahiert wurde (Environmental DNA – eDNA), und zwar direkt im Jagdhabitat der Walarten.
Durch die Beprobung des Meerwassers in verschiedenen Tiefen vor der Azoreninsel Terceira konnten die Wissenschaftler*innen feststellen, welche Tintenfische in den Tiefen leben, in denen die Wale jagen. „Die geringen Mengen an Tintenfisch-eDNA in diesen Wasserproben wurden im Labor analysiert und mit der bekannten DNA von Tintenfischarten verglichen“, erläutert Véronique Merten vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, gemeinsam mit Visser Hauptautorin der Studie. Ein unerwarteter Befund war jedoch, dass sich die Tintenfischgemeinschaften zwischen den Jagdgebieten der beiden Walarten nicht stark unterscheiden, obwohl Cuvier-Schnabelwale viel tiefer jagen. „Beide Räuber haben Zugang zu einer ähnlichen Auswahl an Tintenfischarten“, sagt Visser, „und wir wissen auch, dass diese Teil ihrer Nahrung sind. Es ist also wahrscheinlich, dass beide Räuber die gleiche Beute jagen, aber in sehr unterschiedlichen Tiefen“.
Ein entscheidender Teil des Puzzles könnte der einzigartige Fortpflanzungszyklus der Tintenfische sein. Um die Chancen auf eine erfolgreiche Fortpflanzung zu erhöhen, wandern viele Tintenfischarten in tiefere Gewässer, wenn sie ausgewachsen sind, um sich zu paaren und zu laichen. Dies ist eine Strategie, um Raubtieren aus dem Weg zu gehen. Diese Tintenfische mit weiter entwickelten oder reifen Fortpflanzungsdrüsen sind größer als die Individuen in geringeren Tiefen. „Es ist auch wahrscheinlich, dass sie nahrhafter sind als ihre jungen Verwandten. Gleichzeitig sind die sich fortpflanzenden Individuen für die tief tauchenden Wale möglicherweise auch leichter zu fangen“, sagt Henk-Jan Hoving vom GEOMAR, Ko-Autor der Studie. Durch das extreme Tauchen erhalten Cuvier-Schnabelwale möglicherweise Zugang zu profitablerer Beute. Der Unterschied in den Jagdgebieten zwischen den beiden Top-Raubtieren könnte durch die Verfügbarkeit von Beute mit größerem Nährwert in größeren Tiefen entstanden sein.
Wale reagieren empfindlich auf Bedrohungen in ihrer Umgebung, einschließlich vom Menschen verursachter Geräusche in den Ozeanen. Diese Geräusche können ihre Fähigkeit zu jagen einschränken. Um die Ökosysteme der Tiefsee besser zu schützen, ist nicht nur die Erforschung von Meeressäugern und anderen ozeanischen Top-Raubtieren unerlässlich. Es besteht ein ebenso dringender Bedarf an Wissen über ihre Beute. „Mit den jüngsten Entwicklungen in der eDNA-Methodik ist dies nun möglich geworden“, sagt Véronique Merten. „Insbesondere größere oder seltene Tintenfischarten sind extrem schwer zu untersuchen“. eDNA, so die Wissenschaftlerin sei sehr hilfreich, um diese schwer fassbaren Organismen in den tiefsten Teilen des Ozeans aufzuspüren.
Die Forscher am GEOMAR setzen ihre Arbeit an dieser innovativen Technik fort, um zu untersuchen, wie sich Lebensgemeinschaften im Laufe der Zeit verändern, und um Arten zu identifizieren, die zum Transport von Nährstoffen in der Tiefsee beitragen. Letztendlich hoffen sie auch, aus den eDNA-Daten Informationen über die Häufigkeit von Arten im Ozeanwasser zu gewinnen. „Unsere Methoden können auf andere Räuber-Beute-Systeme übertragen werden“, sagt Fleur Visser. „Das eröffnet die Möglichkeit, unser Verständnis der Interaktionen zwischen den Arten in der Tiefsee wirklich voranzutreiben.“
Text: GEOMAR, Foto: C.D. Carriõ, Universität der Azoren