Müllkippe Meer
Nach dem Zweiten Weltkrieg dachte man, das Meer sei eine Müllkippe. Jetzt holt uns die Vergangenheit ein. Die deutschen Meeresgewässer sind stark mit Munition belastet.
Massenhaft rottet seit über 70 Jahren, zum Teil seit über 100 Jahren, Kriegsmunition auf dem Meeresgrund vor sich hin. Mindestens 1.600.000 Tonnen Munition lagern allein in deutschen Küstengewässern und das Zehnfache auf dem Meeresboden in ganz Europa. Eine bisher unbewältigte Altlast zweier Weltkriege. Die Munition enthält Trinitrotoluol (TNT), Nitropenta (PETN) oder Hexogen (RDX). Die Sprengstoffe aus der Gruppe der Nitramine sind hochbrisant giftig und sind verdächtig Krebs zu verursachen. Mehr als 6.000 Artilleriegranaten (90t) mit dem Nervenkampfstoff Tabun wurden im Helgoländer Loch verklappt. In Nord- und Ostsee liegen schätzungsweise 300.000 Tonnen chemische Kampfstoffe mit Nervenkampfstoff wie Senfgas und Sarin auf dem Grund. Diese Stoffe haben auch Jahrzehnte nach Kriegsende ihre Gefährlichkeit nicht eingebüßt. Wenn Menschen am Meeresboden tätig sind oder Munition auffischen, besteht unmittelbare Gefahr für Leib und Leben. Lange ignorierte man das Problem.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich der Zustand der Munition durch Rost teils dramatisch verschlechtert, so dass Sprengstoff und Kampfstoff bereits in kleineren Mengen in die Umwelt gelangten. Die Gefahr einer Explosion steigt. Immer wieder werden Menschen getötet, wenn Munition, Minen oder Fliegerbomben in die Netze der Fischer geraten. Eine große Gefahr geht auch vom weißen Phosphor aus Brandbomben aus, der an Badestrände der Ostsee angeschwemmt und von arglosen Bernsteinsuchern aufgesammelt wird.
Weißer Phosphor entzündet sich selbst durch den Kontakt mit dem in der Luft enthaltenen Sauerstoff (pyrophor) und brennt dann mit einer 1.300 Grad Celsius heißen Flamme unter starker Entwicklung von weißem Rauch (Phosphorpentoxid), der gesundheitsschädlich ist. Brennenden Phosphor kann man mit Wasser nicht einfach löschen Der Kontakt mit der Haut führt zu schwersten Verbrennungen. Er ist auch noch sehr giftig, die letale Dosis Weißen Phosphors liegt beim Menschen bei rund 50 mg.
Mögliche Auswirkungen auf die Meeresumwelt wurden untersucht. Die Experten warnen nun, dass die Altlasten die Umwelt doch stärker belasten als bisher angenommen.
Taucher entdeckten vor der Kieler Außenförde im Bereich der sogenannten Kolberger Heide ein Munitionsfeld aus insgesamt rund 120 Großsprengkörpern. Vor allem Torpedosprengköpfe und Seeminen aus den bereits TNT und RDX bröckelt wurden gefunden. Diese hochgiftigen Stoffe und Abbauprodukte verursachen bereits in geringer Dosis bei Lebewesen Schäden. TNT belastet die Plattfische in der Kieler Außenförde. Bei Untersuchungen an Plattfischen aus dem Randgebiet der mit Kampfstoff belasteten Kolberger Heide wurden bei jedem vierten Fisch (25%) außergewöhnlich große Lebertumoren festgestellt. In drei Vergleichsgebieten in der Ostsee lag die Tumor-Rate bei den Plattfischen deutlich unter fünf Prozent.
Jetzt steht fest, das TNT mitverantwortlich für die Lebertumoren bei Plattfischen ist. Bei Fischembryonen treten zu dem Missbildungen an der Wirbelsäule auf. Das Wissen und die Ausmaße der Belastung mit Kampfmitteln und deren Auswirkung auf das Ökosystem sind nach wie vor begrenzt.
Die Kampfmittel sind grundsätzlich als eine latente Gefahrenquellen anzusehen, die eine Gefährdung für Tätigkeiten im marinen Bereich, der Umwelt und den Küstenbereich darstellen.
Nach Jahrzehnten der Ignoranz wird das Problem der Munitions-Altlasten im Meer endlich zur Kenntnis genommen. Mit der „Zentralen Meldestelle für Munition im Meer“ setzen Bund und Küstenländer eine Empfehlung des 2011 veröffentlichten Berichts zur Munitionsbelastung der deutschen Meeresgewässer um.
Bei den Bauarbeiten von Offshore-Windparks und dem Ausbau von Kabeltrassen wurden allein 2017 rund 30 Tonnen Waffen, Minen, Granaten, Torpedos und Bomben gefunden. 18 Monate lang waren 60 Spezialisten rund um die Uhr mit der Räumung beschäftigt.
Die Munition soll in Zukunft mit Hilfe von Robotern vollautomatisch geborgen, unschädlich gemacht und umweltgerecht entsorgt werden. Gefährliche Tauchereinsätze und Sprengungen könnten so vermieden werden. Bisher koste es 60.000 Euro, eine einzige Mine am Tag zu sprengen. Die Robotertechnik macht es möglich, unabhängig vom Tageslicht zu arbeiten.
Im schleswig-holsteinischen Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung (MELUND) ist seit 2007 die deutschlandweit einzige Bund-Länder-Arbeitsgruppe zum Thema Munition im Meer angesiedelt. Sie versuchen anhand von alten Logbüchern, Karten und Dokumenten aus der Zeit des Weltkriegs nachzuvollziehen und zu kartieren, wo welche und wieviel Munition liegt. Bomben und Munition die in den Fahrrinnen und Stränden gefunden werden, entschärfen die Kampfmittelräumdienste der Küstenländer Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Die aber können unmöglich die Millionen von Bomben und Minen bergen die in den deutschen Meeresgewässern liegen.
Das Problem muss endlich in einem großen Maßstab angegangen werden, so der ehemalige Umweltminister SH Robert Habeck. Der Umweltminister sieht den Bund in der Pflicht. Der Bund wiederum sieht die Zuständigkeit bei den Küstenländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern, bestenfalls noch Hamburg und Bremen.
Die Munition wird insgesamt durch langes Lagern handlungsunsicherer. Im Ergebnis bedeutet das: Sie wird gefährlicher. Die Forscherinnen und Forscher am Fraunhofer ICT haben beispielsweise festgestellt, dass die Schlagempfindlichkeit der Explosivstoffe sogar erhöht sein kann. Um eine spontane Detonation zu vermeiden, muss beim Handling größte Vorsicht gewährleistet sein.
Es gibt noch einen weiteren Grund, die Minen und Munition möglichst schnell aus dem Meer herauszuholen. Teilweise liegt die Munition nur wenige Meter unter der Meeresoberfläche. Im Gebiet der Kolberger Heide zum Teil nur 12 bis 20 Meter tief. Terroristen könnten sich dort mit einfacher Tauchausrüstung größere Mengen Hochbrisanten Sprengstoff beschaffen.
Welchen Umfang die Bergung der 1,6 Millionen Tonnen Konventioneller Munition aus deutschen Hoheitsgewässern hat zeigt eine Berechnung: Verladen auf einen Güterzug wäre dieser mehr als 3.000 Kilometer lang.
Für eine komplette Entsorgung der Munition ist es notwendig, dass sich die Bundespolitik stärker engagiert und mehr finanzielle Mittel bereit stellt, ohne andere Felder der Meerespolitik zu vernachlässigen oder die Bundesländer aus ihrer Verantwortung zu entlassen.
Müllkippe Meer! Holt uns die Vergangenheit ein? Niemand weiß, wie lange die Menschheit noch umsteuern und die Ozeane und Meere retten kann. Sicher ist nur, dass wir keine Zeit zu verschenken haben.
Text und Grafik: Kurt-E. Finke, Fotos: LKA Schleswig-Holstein