Wie nah ist der Kipp-Punkt?
Mit einer Publikation im Fachmagazin Nature Climate Change tragen Kieler Forschende erneut zum Verständnis der Veränderungen in der Atlantischen Meridionalen Umwälzzirkulation bei – in der Öffentlichkeit als „Golfstromsystem“ bekannt. Sie ist für das globale Klima ebenso wichtig wie für das Klimageschehen in Europa. Im Mittelpunkt der Untersuchungen steht die Frage, ob der menschengemachte Klimawandel die ozeanische Umwälzbewegung bereits verlangsamt. Der neuen Studie zufolge dominieren noch immer die natürlichen Schwankungen. Verbesserte Beobachtungssysteme könnten helfen, den menschlichen Einfluss auf das Strömungssystem frühzeitig zu erkennen.
Verlangsamt sich die Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC)? Kommt dieses für unser Klima so wichtige System von Meeresströmungen womöglich zukünftig zum Erliegen? Sind die beobachteten Schwankungen natürlichen Ursprungs oder bereits eine Folge des menschengemachten Klimawandels? Mit verschiedensten Methoden versuchen Forschende unterschiedlicher wissenschaftlicher Fachrichtungen, die gigantische ozeanische Umwälzbewegung besser zu verstehen.
„Die AMOC sorgt für mildes Klima in Europa und bestimmt jahreszeitliche Regenmuster in vielen Ländern rund um den Atlantik. Wenn sie sich langfristig abschwächt, wirkt sich dies auch auf unser Wetter und Klima aus. Außerdem könnten die Meeresspiegel an einigen Küsten schneller steigen und sich die Fähigkeit des Ozeans verringern, Kohlendioxid aufzunehmen und den Klimawandel abzumildern“, erklärt Professor Dr. Mojib Latif, Leiter der Forschungseinheit Maritime Meteorologie am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. „Wir hängen in vielerlei Weise von der AMOC ab – und können trotzdem bisher nur erahnen, wie sie sich entwickelt, und ob und wie stark wir Menschen selbst sie einem Kipp-Punkt entgegentreiben, an dem ein unaufhaltbarer Kollaps seinen Lauf nimmt.“
Mittels Auswertungen von Beobachtungsdaten, statistischen Analysen und Modellrechnungen hat ein Team um Professor Latif daher Veränderungen der vergangenen gut einhundert Jahre in dem Strömungssystem genauer untersucht. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forschenden jetzt im Fachmagazin Nature Climate Change. Demnach kühlt sich ein Teil des Nordatlantiks ab – ein markanter Gegensatz zu den allermeisten Meeresregionen. Die Auswertungen deuten darauf hin, dass seit Anfang des 20. Jahrhunderts in erster Linie natürliche Schwankungen für diese Abkühlung verantwortlich sind. Gleichwohl weisen die Untersuchungen auf eine beginnende Verlangsamung der AMOC in den vergangenen Jahrzehnten hin.
Klimamodelle sagen übereinstimmend für die Zukunft eine deutliche Verlangsamung des Strömungssystems voraus, wenn unsere Kohlendioxid-Emissionen weiter steigen, sich der Ozean weiter erwärmt und sich das Schmelzen des Grönlandeises beschleunigt. „Unsere Ergebnisse bestätigen frühere wissenschaftliche Erkenntnisse. Aber es bleibt die Frage, wie lange wir uns noch im Bereich natürlicher Schwankungen befinden und wann der Klimawandel die Kontrolle über die AMOC übernimmt. Dann verliefe die Entwicklung nur noch in Richtung Abschwächung und Risiken könnten deutlich zunehmen“, betont Dr. Jing Sun, Meteorologin am GEOMAR und Ko-Autorin der Studie.
Um die kritische Grenze zu bestimmen, sind bessere Beobachtungsdaten nötig, folgern die Autor:innen. „Wenn wir die bereits stattfindenden Veränderungen in allen Regionen des Atlantiks systematisch und dauerhaft messen, werden wir auch mit größerer Sicherheit sagen können, welchen Einfluss der Klimawandel auf das Strömungssystem der AMOC heute und in der Zukunft hat“, sagt Professor Dr. Martin Visbeck. Der Leiter der Forschungseinheit Physikalische Ozeanographie am GEOMAR ist ebenfalls Ko-Autor der Publikation. „Wir sehen im Moment keine sicheren Anzeichen dafür, dass das System sich dramatisch verlangsamt – sondern es schwankt. Aber da sich die neuesten Klimamodelle einig sind, dass eine deutliche Reduzierung eintreten wird, sollten wir wissen, wie lange wir uns noch auf der relativ sicheren Seite natürlicher Veränderungen befinden.“
Text: GEOMAR, Foto: Timm Schoening/GEOMAR