Dem Klimaschutz verpflichtet
Als Lebensraum, der sich durch extreme Bedingungen und hoch angepasste Arten auszeichnet, bedarf die Tiefsee besonderer Aufmerksamkeit. Ein internationales Team von Expert:innen, zu dem auch der GEOMAR-Biologe Dr. Henk-Jan Hoving zählt, äußert daher Besorgnis über mögliche Auswirkungen von ozeanbasierten Maßnahmen, welche derzeit zur Bekämpfung des Klimawandels erwogen werden. In einem in der Fachzeitschrift Science veröffentlichten Perspektiven-Papier raten die Forschenden, Auswirkungen auf die Tiefsee besser zu untersuchen und Risiken bei der Planung von Klimaschutzmaßnahmen sorgfältig zu berücksichtigen.
Angesichts des Klimawandels entwickeln sich dringende Maßnahmen zur Begrenzung des Temperaturanstiegs und des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre. Einige von ihnen könnten auf großen räumlichen Skalen wirken. Im marinen Bereich werden ozeanbasierte Ansätze – in der englischen Fachsprache als „Ocean-Based Climate Interventions“ (OBCIs) bezeichnet – zunehmend als vielversprechende Lösungen zur Eindämmung des Klimawandels in Erwägung gezogen. Sie nutzen verschiedene Technologien, um Kohlendioxid (CO2) aus der Atmosphäre zu entfernen und Kohlenstoff in der Tiefsee zu binden, die Sonneneinstrahlung zu beeinflussen oder erneuerbare Energie zu erzeugen. Über die Auswirkungen der OBCIs auf die Biogeochemie der Ozeane und die biologische Vielfalt der Meeresökosysteme ist jedoch wenig bekannt. Dies gilt insbesondere für die Tiefsee, die mehr als 40 Prozent der Erde bedeckt und äußerst empfindliche Arten und Ökosysteme enthält.
Ein internationales Team von Expert:innen hat sich daher im Rahmen der Arbeitsgruppe „Klimawandel“ der Deep Ocean Stewardship Initiative (DOSI) zusammengefunden, um Auswirkungen von OBCIs auf die Tiefsee zu untersuchen. Zu der Gruppe unter der Leitung von Dr. Lisa Levin von der Scripps Institution of Oceanography, University of California San Diego (USA), zählt auch Dr. Henk-Jan Hoving, Biologe und Leiter der Forschungsgruppe Tiefsee-Biologie am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. Für ihren gemeinsamen Perspektivartikel in der Fachzeitschrift Science analysierten die Forschenden potenzielle OBCI-Konzepte und bewerteten deren mögliche Auswirkungen auf Tiefsee-Ökosysteme und die biologische Vielfalt. Dr. Hoving steuerte dazu Fachwissen zur Ökologie von Nahrungsnetzen und Biologie von Tiefseeorganismen bei. Aufgrund ihrer Ergebnisse äußern die Wissenschaftler:innen erhebliche Bedenken und fordern integrierte Forschungsansätze, um die Auswirkungen auf die Tiefsee bei der Planung von Maßnahmen zum Klimaschutz eingehend berücksichtigen zu können.
Die Tiefsee ist eines der am wenigsten bekannten Gebiete der Erde. Sie umfasst zahlreiche empfindliche Ökosysteme, die auch eine entscheidende Rolle im Kohlenstoffkreislauf spielen. Durch die engen Verbindungen zwischen der Oberfläche und den tieferen Schichten werden Auswirkungen des Klimawandels und anderer Stressfaktoren auf die gesamte Wassersäule und den Meeresboden übertragen. So ist dieser immense Lebensraum den Folgen des menschenverursachten Klimawandels – etwa Erwärmung, Sauerstoffmangel und Versauerung – bereits unmittelbar ausgesetzt. Hinzu kommen bisher beispiellose Bedrohungen durch die Auswirkungen der industriellen Fischerei und Verschmutzung. Ozeanbasierte Maßnahmen zum Klimaschutz könnten den Druck weiter erhöhen und das Funktionieren global wichtiger Tiefsee-Systeme gefährden. OBCI-Technologien entwickeln sich zwar rasch – doch weder ihre potenziellen Folgen für die Umwelt noch ihre gesamten Wirksamkeiten sind bisher ausreichend bewertet worden. Dass sich die politische Steuerung der OBCI-Aktivitäten noch in den Anfängen befindet, stellt eine zusätzliche Herausforderung dar.
„Es besteht kein Zweifel, dass die Gesellschaft drastische Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels in Betracht ziehen muss“, betont Dr. Henk-Jan Hoving. „Die ökologischen Funktionen vieler Tiefseeorganismen, ihre Wechselwirkungen sowie ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Veränderungen und Störungen sind jedoch weitgehend unbekannt. Weitere Forschung ist erforderlich, um zu bewerten, wie sich die Anwendung von OBCI-Techniken auf Tiefseeökosysteme auswirken kann, die von entscheidender Bedeutung für die Gesundheit unseres Ozeans sind.“
In ihrer Veröffentlichung plädieren die Wissenschaftler:innen für einen ganzheitlichen Ansatz, der die Folgen aller potenziellen OBCIs auf die Tiefsee integriert betrachtet. Dies erfordert einen internationalen transdisziplinären Rahmen, ähnlich den Empfehlungen, die für die Forschung zum solaren Geoengineering gegeben wurden. Auf der Grundlage eines integrierten Ansatzes zur Beobachtung, Erprobung und Modellierung könnten nachhaltige Klimalösungen für evidenzbasierte politische Entscheidungen ermittelt werden.
„Ich sehe in der Klimabeeinflussung auf dem offenen Ozean einen schnell entstehenden Bereich, der die Ökosysteme der Tiefsee vor erhebliche Herausforderungen stellt und daher neue wissenschaftliche Erkenntnisse und eine neue Politik erfordert, bevor wir uns zum Handeln verpflichten“, so Hauptautorin Dr. Lisa Levin abschließend.
Text: GEOMAR, Foto: ROV-Team/GEOMAR